Der lange Weg nach Hause
Der lange Weg nach Hause
Robert Newding
Dies ist die Geschichte der Oleandersorte ‘Harriet Newding’ und wie sie den Weg nach Hause fand. (Sie ist während des Hurrikans verloren gegangen, der 2008 die Insel Galveston, ihren
Entstehungsort, verwüstete.)
Aber zuerst eine kleine Vorgeschichte. Die Oleandersorte ‘Harriet Newding’ ist ungewöhnlich, denn sie wurde durch Bewurzelung ausgewählter Stecklinge einer Chimäre entwickelt. In vereinfachten Worten: eine Chimäre entsteht als spontane genetische Mutation in einem Teil einer sonst normalen Pflanze. Die Folge kann eine Pflanze mit Blüten mehrerer Farben sein. Normalerweise sind die meisten neuen Oleandersorten das Ergebnis der Hybridisierung (durch Bestäubung) zweier verschiedener Pflanzen .
Die Mutterpflanze von ‘Harriet Newding’ war ein zufälliger Sämling mit drei verschiedenen Arten von Blüten. Die meisten waren die rot gestreiften pergamentweißen Blüten. Aber an einigen anderen Trieben waren einige völlig weiße oder gelegentlich völlig rote Blüten. In allen Fällen waren Blüten- und Blattform identisch.
Diese neue Pflanze wurde inmitten einer Hecke entdeckt, die fast nur aus „Galvestoner“ Oleandern bestand. Die Hecke umgab vor etwa 20 Jahren das Haus meiner Mutter (in Driftwood Lane, Galveston). Man brauchte drei Jahre, um die genetisch stabile ‘Harriet Newding’, die wir heute kennen, zu isolieren.
Bei solchen Chimären bestimmt die Lage der Mutation innerhalb des Pflanzengewebes, ob die gewünschte Mutation zuverlässig isoliert werden kann. Daher muss man oft über viele Generationen Stecklinge auswählen und bewurzeln, bevor das gewünschte Ergebnis erreicht wird. Wie viele andere Chimären-Isolierungen erzeugt ‘Harriet Newding’ keine lebensfähige Samen; sie ist also wirklich ein Unikat.
Wahrend der frühen 1990-Jahre wurde ‘Harriet Newding’ neben der Medizinischen Fakultät der University of Texas entlang eines ganzen Häuserblocks gepflanzt. Im Jahr 2008 wurde dieses Teil der Insel durch Hurrikan „Ike” 2,5 m hoch mit Meereswasser überschwemmt. Die Beschädigung am Universitätsgebäude wurden auf $ 500.000.000 geschätzt. 80 Prozent der Häuser auf der Insel wurden überflutet und mehrjährig unbewohnbar. Das Salz tötete die meisten Sträucher und Bäume der Insel, einschließlich hunderter Lebens-Eichen, die nach dem Hurrikan von 1900 gepflanzt wurden, jenem Sturm, bei dem 6.000 Einwohner umkamen.
Alle ‘Harriet Newding’-Oleander, einschliesslich meiner eigenen Pflanzen in Töpfen, waren nach dem Hurrikan von 2008 verschwunden - sie waren offenbar verloren gegangen.
Glücklicherweise hatten viele Oleanderliebhaber im Lauf der Jahre die Insel besucht und Stecklinge von einmaligen Galvestoner Oleandern gesammelt. Zu meiner großen Überraschung hatte ‘Harriet Newding’ Europa erreicht, und war dort zu einer beliebten Oleandersorte geworden. Ich glaube, Olivier Filippi brachte als Erster Stecklinge nach Südfrankreich, von wo aus die Sorte weiter verbreitet wurde. Heute kann man diesen Oleander in französischen, spanischen, italienischen, griechischen, holländischen, deutschen, österreichischen und ungarischen Gärtnereien kaufen; auch über e-Bay. Mein Bruder, der in Deutschland wohnt, hat ihn von einer bayerischen Gärtnerei bekommen.
Im letzten Winter bekam ich eine Mail von Jim Nicholas, Mitglied der Internationalen Oleandergesellschaft, aus Rocky Hill, Connecticut USA. Jim hatte meinen Garten vor zehn Jahren besucht, was ich inzwischen vergessen hatte. In seiner Nachricht zeigte er sich besorgt über den Verlust der ‘Harriet Newding’, doch er sagte, dass er fünf bewurzelte Pflanzen hätte und wann und wohin er sie schicken sollte - ! Nur Betty (Elisabeth) Head von der Oleander-Society hatte ich gesagt, dass der nach meiner Mutter benannte Oleander verloren gegangen war. Scheinbar hatte Jim dies gehört - jedenfalls versendete er Bitten um Stecklinge von ‘Harriet Newding’.
Erstaunlich war der Weg, wie diese Pflanzen nach Galveston zurückkehrten. Aus Ungarn schickte Mariann Hámori drei Pflanzen und auch Stecklinge. (Vor Kurzem hat Mariann ein wichtiges Buch über Oleander veröffentlicht, hauptsächlich über europäische, aber auch über viele Galvestoner Sorten.) Ihre ursprünglichen Pflanzen hatte sie von Olivier Filippi in Frankreich bekommen.
Durrell Nelson aus Nauvoo, Illinois, USA, schickte die restlichen ‘Harriet Newding’-Oleander aus seiner umfangreichen Privatsammlung. In einer Mail erzählte er mir, dass er sich als junger, in Utah wohnender Mann für Oleander interessiert hatte. Mehrere Familien in seiner Stadt kultivierten eine oder zwei Pflanzen in Kübeln, die sie im Keller überwinterten. Er hatte auch in der Schweiz gelebt, wo er Oleander als sommerblühende Kübelpflanzen gesehen hatte, und so wurde er gebeten, sie selber auch hier zu pflegen. Seine ‘Harriet Newding’-Oleander bekam er ursprünglich von Nathan Viegkham aus Vancouver, Washington, USA.
Der letzte Teil dieses verschlungenen Weges nach Hause war am Anfang dieses Jahres (2013). Ich war schon verspätet von meinem “Sommerhaus” an der Küste von Maine weggefahren. Die Reise von 3.300 Kilometer nach Galveston (mit meinen drei Labrador-Retrievers) führte jedoch nur wenige Minuten an Jim’s Haus vorbei - also verabredeten wir uns auf einen Besuch: An einem Januarnachmittag, bei Schnee und Minusgraden, überreichte er mir einen Karton mit fünf gesunden dunkelgrünen ‘Harriet Newding’-Oleandern.
Jetzt sind die Pflanzen wieder glücklich im subtropischen Galveston, nur ein paar Meter von ihrem Entstehungsort. Eine wird hier im Garten bleiben, eine zweite wird in den Oleandergarten der Internationalen Oleandergesellschaft gepflanzt.
Meinen herzlichsten Dank an alle, deren Hände geholfen haben, den ‘Harriet Newding’-Oleander auf den langen Heimweg zu schicken.
13. Mai 2013
Anmerkung des Verfassers: Eine dritte ‘Harriet Newding’ ist bei der Trinity Episkopal Church in Galveston vor den Gedenksteinen der Eltern von Robert Newding gepflanzt worden.
Eine ‘Harriet Newding’ in Bob's Garten
Eine weitere ‘Harriet Newding’ . . .
. . . bei der Trinity Episkopal Church . . .
. . . vor den Gedenksteinen von Bob's Eltern